Allegorie der Assimilation

Allegorie der Assimilation
(Foto: Bob Sousa)

 

Fotos de Bob Sousa
Versão para o alemão de Sonia Castino

Dem Ziel getreu, in- und ausländische Theaterproduktionen auf der Grundlage der Verschmelzung von Sprachexperimenten und kritischer Bereitschaft gegenüber zeitgenössischen Lebensweisen zusammenzubringen, hat die 8. Mostra Internacional de Teatro de São Paulo (MITsp) – deren künstlerische, reflexive und pädagogische Aktionen fünfzehn kulturelle Einrichtungen in der Hauptstadt São Paulo vom 2. bis 12. Juni besetzt haben – die Zuschauer noch einmal eingeladen, die Theatergrenzen neu zu definieren, indem es ein Spiel ohne Schauspieler in sein Programm aufgenommen hat: Unheimliches Tal der deutschen Gruppe Rimini Protokoll.

Es sei daran erinnert, dass MITsp bereits 2015 die performative Installation Stifters Dinge in die Stadt gebracht hatte, die vom Regisseur Heiner Goebbels in Zusammenarbeit mit dem Szenografen Klaus Grünberg konzipiert wurde und die eine seltsame Theatralik ausstrahlte, deren große Subversion darin bestand, die Abwesenheit eines menschlichen vermitteldenden Körper da zu ermöglichen. Das Maschinen-Ding der deutschen Schöpfer vermittelte eine Erfahrung voller Subjektivitätsmerkmale, die von einer Art “Alterität ohne Person” getragen wurde, die sich aus der raffinierten Artikulation unverbundener Objekte auf der Bühne ergab, die aber nach Giorgio Agambens Auffassung höchst aussagekräftig waren.

Nun, dieses Jahr hat MITsp wieder einmal eine Provokation gestartet: könnte das Theaterphänomen ohne die Präsenz eines wirklich lebendigen und pulsierenden Körpers vor dem Publikum auskommen, eines Körpers, der im Wesentlichen menschlich ist? Unheimliches Tal beweist, daß dies möglich ist, obwohl die Theateraufführung nicht gerade auf jenes Zukunftskonzept setzt, das sich der Raubtierkapitalismus unserer Tage so unersättlich angeeignet hat, sei es in der Tonart der Markteuphorie oder in der dystopischen Bedrohung, in der Maschinen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens den Platz des Menchen einnehmen werden. Vielmehr ist Unheimliches Tal eine zeitgenössische Theatererfahrung (mit ihrem jeweiligen Einsatz technischer Hilfsmittel), die sich auf die Suche nach einem diffusen Punkt in der Vergangenheit begibt und in sich überlagernden Bedeutungsebenen menschliche Eigensinnigkeit für die Idee der Automatisierung seit Homer (siehe die „automatische Tripoden”, die der Gott Hephaistos im XVIII Gesang der Ilias baut) hervorruft.

(Foto: Bob Sousa)

Das auf die Bühne gestellte Robotergerät hat einen berühmten Vorläufer in der Geschichte des Theaters selbst: die Animatronik aus dem Stück RUR (Rossum‘s Universal Robots, wie der englische Untertitel es definiert) des tschechischen Schriftstellers Karel Čapek, seit dessen Debüt in Prag im Jahr 921 das Wort Roboter in mehreren Sprachen verwendet wird. Sechs Jahre später, im Gefolge der futuristischen Ästhetik, die noch in den 1920er Jahren en vogue war, starrte die Androidin Maria das Publikum von Fritz Langs Metropolis an. Solche Figuren sind jedoch zweifellos Nachfolger eines noch früheren Universums, dem des Schriftstellers E. T. A. Hoffmann (1776-1822), aus dem zwei verstörende Kreaturen hervorgegangen sind: die Olympia- und Turco-Automaten.

In Unheimliches Tal verwandeln der Regisseur Stefan Kaegi und der Theaterautor Martin Vidés-Stauber die biografischen Zeugnisse zweier zeitlich und räumlich weit entfernter, aber durch die Bühnenperspektive gespiegelter Persönlichkeiten – des deutschen Schrifstellers und Dramatikers Thomas Melle (dessen Kopf als Gussform für die Erschaffung des Performer-Roboters, der als das andere Ich des Schriftstellers dargestellt wird) und des britischen Informatikers Ala Turing – in einer Art Allegorie der Assimilation. Melles Bipolarität, die im Schauspiel Die Welt im Rücken (2016) grob behandelt wird, und der erfolglose Versuch der sexuellen Rekonditionierung Turings, der 1954 zu seinem Tod führte, verweisen auf die Idee, sich selbst zu kopieren – eine simulierte, imitierte, vorgetäuschte Kopie – als eine Wesenheit, die den Einzelnen manchmal in seiner tiefen Innerlichkeit schützt, manchmal seine Verletzlichkeit vor aller Augen offenlegt.

Das Stück erinnert indirekt an die Kurzgeschichte „Ein Bericht für eine Akademie“ von Franz Kafka, in der ein Affe, oder besser gesagt ein ehemaliger Affe, einer Gruppe von Wissenschaftlern den Transformationsprozess erzählt, durch den er gelernt hat, sich als Mensch zu verhalten. Mit der üblichen Ironie offenbart Kafka, dass der einstige Affe den Status eines irrationalen Tieres offenbar vollständig aufgegeben hat, nicht gerade weil er sich Vernunft angeeignet hatte, sondern weil er sehr erfolgreich darin war, bestimmte menschliche Verhaltensmuster zu assimilieren. In dieser „Kommunikation zum Theaterpublikum“ überrascht nicht das robotische Double von Thomas Melle, denn es ist technisch und technologisch der vollkommenste Ausdruck der Errungenschaften der künstlichen Intelligenz. Vielmehr gelingt es ihm, unsere Empathie zu gewinnen, indem er die Gesten, die Sprache und die Stimmung seiner Matrixpersönlichkeit assimiliert und sogar Innenansichten simuliert.

Der Roboter, der uns mit melancholischer Stimme und eingeschränkten Bewegungen anspricht, eignet sich Melles Geschichte an, ahmt seine Ideen und Gefühle nach, auch wie eine Kopie, ein Double. Tatsächlich wird eine ähnliche Duplizität auf Turings tragische Flugbahn projiziert. Von diesem Ort des simulierten Kopierens aus stellt der Roboter, an dem wir ein tiefes Interesse haben, einige Fragen über unsere Assimilationen, Dissimulationen, Duplizitäten, Vortäuschungen – kurz gesagt, über unsere eigene Menschlichkeit.

Versão para o alemão de Sonia Breitenwieser Alves dos Santos Castino.

Sonia Castino é doutora em Filologia e Língua Portuguesa pela USP (2006) e mestre em Língua e Literatura Alemã pela mesma instituição (1996). É revisora da Revista Communicare, pesquisadora e, desde 1997, professora na Faculdade Cásper Líbero, onde atualmente é Coordenadora de Ensino de Cultura Geral.

Welington Andrade é bacharel em Artes Cênicas pela Unirio, mestre e doutor em Literatura Brasileira pela USP e professor da Faculdade Cásper Líbero, onde atualmente é diretor.


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